ELF

Hinter der Bühne ist Miles umringt von Freunden und Verwandten und trägt immer noch die weißen Go-Go-Stiefel und das Minikleid aus seiner letzten Szene als Tracy Turnblad in Hairspray.

»Bravo! Du warst sagenhaft!«, sage ich, und anstelle einer Umarmung reiche ich ihm die Blumen. Ich kann es nicht riskieren, noch mehr Energie aufzunehmen, da ich ohnehin so nervös bin, dass ich kaum mit meiner eigenen zurande komme. »Ehrlich, ich hatte keine Ahnung, dass du so singen kannst.«

»Doch, hattest du.« Er streift die langen Strähnen seiner Perücke zur Seite und versenkt die Nase in den Rosenblüten. »Du hast mich x-mal Karaoke singen hören.«

»Nicht so.« Ich lächele und meine es ernst. Ja, er war sogar so gut, dass ich mir vornehme, an einem weniger nervenaufreibenden Abend in eine der nächsten Aufführungen zu gehen. »Und wo ist Holt?«, frage ich, obwohl ich die Antwort schon kenne, nur um ein bisschen Smalltalk zu treiben, bis Damen kommt. »Inzwischen habt ihr euch doch sicher versöhnt?«

Miles runzelt die Stirn und zeigt auf seinen Dad, während ich zusammenzucke und ein lautloses Sorry formuliere. Ich habe ganz vergessen, dass er sich zwar vor seinen Freunden geoutet hat, aber nicht vor seiner Familie.

»Keine Sorge, es ist alles in Ordnung«, flüstert er, klimpert mit seinen falschen Wimpern und fährt sich mit den Händen durch die blonden Locken. »Ich hab vorübergehend die Nerven verloren, aber das ist jetzt alles vergeben und vergessen. Aber da wir gerade von Märchenprinzen sprechen ...«

Ich wende mich zur Tür um, begierig darauf, Damen hereinkommen zu sehen. Mein Herz überschlägt sich fast, wenn ich nur an ihn denke - ihn mir in all seiner atemberaubenden Herrlichkeit vor Augen führe, und ich bemühe mich gar nicht erst, meine Enttäuschung zu verhehlen, als ich begreife, dass er Haven und Josh meint.

»Was sagst du dazu?«, fragt er. »Schaffen sie es?«

Ich sehe zu, wie Josh seinen Arm um Havens Taille schlingt und sie an sich zieht. Doch sosehr er sich auch bemüht, es hat keinen Sinn. Obwohl sie perfekt zueinander passen, ist sie auf Roman fixiert - sie spiegelt die Art, wie er dasteht, wie er beim Lachen den Kopf nach hinten wirft und wie er die Hände hält. Ihre gesamte Energie fließt geradewegs zu Roman hin, als gäbe es Josh überhaupt nicht. Doch obwohl die Sache weitgehend einseitig wirkt, ist Roman bedauerlicherweise der Typ, der mehr als bereit wäre, sie mal eine Runde zur Probe zu fahren.

Ich wende mich zu Miles um und ringe mir ein lässiges Schulterzucken ab.

»Es gibt eine Ensembleparty bei Heather«, sagt Miles. »Wir machen uns bald alle auf den Weg. Kommt ihr mit?«

Ich sehe ihn verständnislos an. Ich weiß nicht einmal, wer Heather ist.

»Die, die Penny Pingleton gespielt hat?«

Ich weiß auch nicht, wer das ist, aber das werde ich unter keinen Umständen zugeben, also nicke ich, als wüsste ich Bescheid.

»Erzähl mir bloß nicht, ihr zwei habt so viel geknutscht, dass ihr das ganze Stück verpasst habt!« Er schüttelt den Kopf auf eine Weise, die deutlich macht, dass er das nur halb im Scherz meint.

»Sei doch nicht albern, ich habe alles gesehen!«, erwidere ich, während mein Gesicht in sämtlichen Rottönen anläuft und ich weiß, dass er mir nicht glaubt. Dabei stimmt es mehr oder weniger. Obwohl wir uns benommen und überhaupt nicht geknutscht haben, war es beinahe so, als würden unsere Hände knutschen - so wie Damen seine Finger mit meinen verschlungen hat - und als würden unsere Gedanken knutschen - angesichts der telepathischen Botschaften, die wir hin und her gesandt haben. Und obwohl meine Augen die ganze Zeit auf die Bühne gerichtet waren, war ich in Gedanken ganz woanders, nämlich bereits in unserem Zimmer im Montage.

»Also kommt ihr jetzt mit oder nicht?«, hakt Miles nach, während er bereits korrekt vermutet, dass wir nicht kommen, jedoch nicht annähernd so gekränkt ist, wie ich gedacht hätte. »Wo wollt ihr zwei eigentlich hin? Gibt es etwas Aufregenderes als eine Party mit Ensemble und Team?«

Ich bin in großer Versuchung, ihm alles zu sagen und mein Geheimnis mit jemandem zu teilen, dem ich vertrauen kann. Doch gerade als ich mich dazu durchgerungen habe, es zu verraten, kommt Roman mit Josh und Haven im Schlepptau zu uns her.

»Wir fahren rüber, sollen wir jemanden mitnehmen? Es ist nur ein Zweisitzer, aber ein Platz wäre noch frei.« Roman nickt mir zu, sein Blick ist forschend, durchdringend, selbst nachdem ich mich abgewandt habe.

Miles schüttelt den Kopf. »Ich fahre bei Holt mit, und Ever hat was Besseres vor. Irgendein streng geheimes Vorhaben, das sie um keinen Preis verraten will.«

Roman lächelt, sodass sich seine Mundwinkel heben, während er den Blick über meinen Körper schweifen lässt. Und obwohl seine Gedanken theoretisch betrachtet eher schmeichelhaft als beleidigend sind, genügt die Tatsache, dass sie von ihm kommen, um mir kalte Schauer über den Rücken zu jagen.

Ich sehe zur Tür, da Damen mittlerweile längst da sein müsste. Ich will ihm gerade eine telepathische Botschaft schicken und ihm sagen, dass er sich beeilen und mich drinnen abholen soll, als ich von Roman unterbrochen werde. »Dann musst du es aber auch vor Damen geheim gehalten haben. Er ist nämlich gerade weggefahren.«

Ich wende mich um, und mein Blick trifft seinen. Sofort spüre ich das unverkennbare Alarmläuten in meinem Magen, während sich eine Eisschicht auf meine Haut legt. »Er ist nicht weggefahren«, sage ich und versuche nicht einmal, die Schärfe aus meiner Stimme herauszuhalten. »Er wollte bloß sein Auto herholen.«

Doch Roman zuckt nur die Achseln und sieht mich mitleidig an. »Wie du meinst. Ich dachte nur, du solltest wissen, dass Damen gerade eben, als ich draußen eine geraucht habe, vom Parkplatz gefahren und davongerast ist.«

 

Der blaue Mond
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